Neukonzeption des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule
Bereits auf der 7. Konferenz der European Early Childhood Education and Research Association in München 1997 wurden Impulse für das Thema Diskontinuitäten und Transitionen im Leben von Kindern und Qualität der Frühpädagogik vermittelt. Es wird ein Konzept von Qualität in der Kindertagesbetreuung benötigt, das die Bewältigung von Diskontinuitäten thematisiert und die grundlegenden Kompetenzen dazu fördert (Fthenakis 2000, 2002). Der Übergang von einer vorschulischen Einrichtung in das formale Schulsystem ist zu einem Schwerpunkt des Interesses der internationalen frühpädagogischen Forschung geworden (Fabian/Dunlop 2002).
Ein übergreifendes theoretisches Konzept für Transitionen ist im IFP entwickelt worden, welches auch die Bewältigung von Diskontinuität thematisiert. Den theoretischen Hintergrund bilden Ökopsychologie und Systemtheorie (Bronfenbrenner 1979; Nickel 1990), die Stressforschung (Lazarus 1995), die Theorie der kritischen Lebensereignisse (Filipp 1995) sowie der Transitionsansatz (Cowan 1991; Fthenakis 1999). Letzterer wurde auf den Übergang von der Familie in den Kindergarten (Niesel/Griebel 2000) und vom Kindergarten in die Schule (Griebel/Niesel 2002a, b) übertragen.
Die Anforderungen für das werdende Schulkind im Transitionsprozess lassen sich lokalisieren
- auf der individuellen Ebene: Veränderung der Identität, Bewältigung starker Emotionen, Kompetenzerwerb,
- der interaktionalen Ebene: Aufnahme neuer Beziehungen, Veränderung bzw. Verlust bestehender Beziehungen, Rollenzuwachs, und
- auf der kontextuellen Ebene: Integration zweier Lebensbereiche, Curriculum, evtl. weitere familiale Übergänge.
Es handelt sich jeweils um Diskontinuitäten in den Erfahrungen des Kindes. Reaktionen werden als Bewältigungsstrategien erkennbar. Der Prozesscharakter und die Chancen eines Übergangs werden betont.
Nicht nur das Kind wird ein Schulkind, seine Eltern werden Eltern eines Schulkindes und bewältigen damit ebenfalls einen Übergang. Erzieherinnen und Lehrerinnen begleiten beruflich diesen Übergang, haben aber selbst keinen Übergang zu bewältigen. Unterschied ist, dass keine Veränderungen auf der Identitätsebene eintreten und dass das Merkmal der Erstmaligkeit oder Einmaligkeit fehlt.
Von einem erfolgreichen Übergang wird gesprochen, wenn das Kind sich emotional, psychisch, physisch und intellektuell angemessen in der Schule präsentiert (Übersicht bei Yeboah 2002). Das Kind ist dann ein kompetentes Schulkind, wenn es sich in der Schule wohl fühlt, die gestellten Anforderungen bewältigt und die Bildungsangebote für sich optimal nutzt.
Die Schulfähigkeitsdebatte der letzten Jahre ist gekennzeichnet durch
- die Abkehr vom Selektionsprinzip hin zum Förderprinzip,
- die Einsicht, dass Schulfähigkeit nicht der Status eines Kindes zu einem bestimmten Zeitpunkt sein kann, sondern dass Schulfähigkeit erst in der Schule durch schulische Erfahrung erreicht wird, die auf den Vorerfahrungen in Familie und vorschulischer Einrichtung aufbaut.
Eine transitionsorientierte pädagogische Konzeptualisierung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule kann einen grundlegenden Beitrag zur Überwindung herkömmlicher Annahmen zur Schulfähigkeit leisten:
- Die mit dem Übergang verbundenen Anforderungen für Kinder und Eltern lassen sich genauer beschreiben und pädagogisch umsetzen (Griebel/Niesel 2002a)
- Es wird die Notwendigkeit sowohl von Basiskompetenzen (Fthenakis 2000, 2002) als auch von schulnahen Vorläuferkompetenzen (Kammermeyer 2001) für die Bewältigung des Übergangs zum Schulkind erkennbar.
- Diagnostisch kompetente Erzieherinnen (Faust-Siehl 2001) erkennen individuellen Förderbedarf, an dem in der Grundschule angeknüpft werden kann.
- Der Prozesscharakter der Übergangsbewältigung impliziert, dass die Transition erst in der Schule abgeschlossen werden kann.
- Dass Eltern sowohl Unterstützer ihres Kindes als auch Bewältiger ihres eigenen Übergangsprozesses sind, erweitert den Blickwinkel und lässt neue Formen der Elternarbeit in Kindergarten und Schule erkennbar werden.
- Die Institutionen Kindergarten und Grundschule müssen sich für einander sowie für Eltern und Kinder öffnen, so dass durch Kooperation Klarheit über Inhalte und Formen der Zusammenarbeit entsteht (Hacker 2001).
- Schulfähigkeit wird somit, wie national und international gefordert, zu einer Aufgabe für alle Beteiligten.
Die seit den 1980-er Jahren zu beobachtende Strategie, Kontinuität beim Übergang zwischen Kindergarten und Schule herstellen zu wollen, ist kürzlich von Dollase (2000) als "Kontinuitätsdoktrin" bezeichnet worden. Die zugrunde gelegte Philosophie ließe sich zusammenfassen als "Kontinuität ist immer gut, Diskontinuität ist immer schlecht" (Peters/Kontos 1987). Demgegenüber muss jedoch hervorgehoben werden:
- Es gibt Bedingungen für die Entwicklung, die Interventionen in Richtung auf Herstellen von Diskontinuität erfordern.
- Streben nach Kontinuität ist nur eine Strategie zur Bewältigung von Transitionen unter mehreren. Die jeweilige Effektivität der Strategien gilt es erst noch zu evaluieren.
- Kontinuität in der Entwicklung des Einzelnen zu identifizieren ist ein komplexes Problem der Entwicklungspsychologie und kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden (Oerter/Montada 1999).
- Diskontinuität in der Erfahrung darf nicht nur als Quelle von Problemen in der Entwicklung, sondern muss auch als wichtiger Stimulus für Entwicklung angesehen werden (Filipp 1995; Welzer 1993).
Den Mangel an Aufmerksamkeit, der Übergangsprozessen im Bildungssystem, deren Anforderungen und pädagogische Unterstützung bisher gewidmet wurde, gilt es zu überwinden. Bewältigung von Diskontinuitäten und konzentrierte Prozesse sozialen Lernens sind der Schlüssel für erfolgreiche Transitionen. Transition als Co-Konstruktion aller Beteiligten ist von intensiver Kommunikation und der Partizipation von Kindern und Eltern abhängig.
Bronfenbrenner, U.: The ecology of human development. Cambridge: Harvard University Press 1979
Cowan, P.: Individual and family life transitions: A proposal for a new definition. In: Cowan, P./Hetherington, E.M. (Hrsg.): Family transitions: Advances in family research. Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1991, S. 3-30
Dollase, R.: Reif für die Schule? Kinderzeit 2000, Heft 2, S. 5-8
Fabian, H./Dunlop, A.-W. (Hrsg.): Transitions in the early years. Debating continuity and progression for children in early education. London: RoutledgeFalmer 2002
Faust-Siehl, G.: Die neue Schuleingangsstufe in den Bundesländern. In: Faust-Siehl,G./Hamdan, A. (Hrsg.): Schulanfang ohne Umwege. Frankfurt/Main: Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V. 2001, S. 194-252
Filipp, H.-S.: Ein allgemeines Modell für die Analyse kritischer Lebensereignisse. In: Filipp, H.-S. (Hrsg.): Kritische Lebensereignisse. Weinheim: Beltz, 3. Aufl. 1995, S. 3-52
Fthenakis, W.E.: Transitionspsychologische Grundlagen des Übergangs zur Elternschaft. In: Fthenakis, W.E./Eckert, M./v. Block, M. für den Deutschen Familienverband (Hrsg.): Handbuch Elternbildung. Band 1. Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 31-68
Fthenakis, W.E.: Konzeptionelle Neubestimmung von Bildungsqualität in Tageseinrichtungen für Kinder mit Blick auf den Übergang in die Grundschule – ein neuer Modellversuch im Staatsinstitut für Frühpädagogik. Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern 2000, 5, S. 19
Fthenakis, W.E.: Trends and perspectives in early childhood education: Reconceptualising early childhood education from an international point of view. Vortrag im Rahmen der 3 rd Conference of Pacific Early Childhood Education and Research Association, Shanghai, China, 22.-25.07.2002
Griebel, W./Niesel, R.: Abschied vom Kindergarten, Start in die Schule. München: Don Bosco 2002a
Griebel, W./Niesel, R.: Co-constructing transition into kindergarten and school by children, parents, and teachers. In: Fabian, H./Dunlop, A.-W. (Hrsg.): Transitions in the early years. Debating continuity and progression for children in early education. London: RoutledgeFalmer 2002b, S. 64-75
Hacker, H.: Die Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Grundschule. In: Faust-Siehl, G./Hamdan, A. (Hrsg.): Schulanfang ohne Umwege. Frankfurt/Main: Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V. 2001, S. 80-94
Kammermeyer, G.: Schulfähigkeit: In: Faust-Siehl, G./Hamdan, A. (Hrsg.): Schulanfang ohne Umwege. Frankfurt/Main: Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V. 2001, S. 96-118
Lazarus, R.S.: Stress und Stressbewältigung – ein Paradigma. In: Filipp, H.-S. (Hrsg.): Kritische Lebensereignisse. Weinheim: Beltz, 3. Aufl. 1995, S. 198-232
Nickel, H.: Das Problem der Einschulung aus ökologisch-systemischer Perspektive. Psychologie in Erziehung und Unterricht 1990, 37, S. 217-227
Niesel, R./Griebel, W.: Start in den Kindergarten. München: Don Bosco 2000
Oerter, R./Montada, L.: Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz PVU, 4. Aufl. 1999
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Welzer, H.: Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse. Tübingen: edition discord 1993
Yeboah, D.A.: Enhancing transition from early childhood phase into primary education: evidence from the research literature. Early Years 2002, 22, S. 51-68